Die weibliche Hochbegabung

Veröffentlicht am 07.01.2019

Hochbegabung

Hochbegabung erfährt einen Boom in der öffentlichen Wahrnehmung. Sind wir plötzlich alle ein bisschen hochbegabt?

Hochbegabung meint, laut wissenschaftlicher Definition, die intellektuelle Leistungsfähigkeit eines Menschen. Als hochbegabt gelten Menschen mit einem IQ von mehr als 130, was 2% einer Gesellschaft ausmacht. Ein klassischer IQ-Test bildet jedoch nur einen Teil des Phänomens Hochbegabung ab. Künstlerische, soziale und emotionale Fähigkeiten können IQ-Tests nicht erfassen, was einen Diskurs über die Plausibilität klassischer Hochbegabten-Tests einleitet. Andrea Brackmann, eine der bekanntesten deutschen Autorinnen zu diesem Thema drückt es so aus: Hochbegabung ist ein Mehr von allem – Denken, Wahrnehmen, Fühlen. Hochbegabung bedeutet eine besondere, d.h. komplexere Persönlichkeitsstruktur.

Abhängig von der Förderung, die Hochbegabte im Kindes- und Jugendalter in ihrem Umfeld erhalten (haben), kann das Selbstbild dementsprechend variieren. Manche Hochbegabte erfahren später – meist durch psychosomatische Auffälligkeiten oder mit der Hochbegabung der eigenen Kinder – von ihrer Besonderheit. Nicht erkannte oder spät erkannte Begabungen können zu massiven Selbstzweifeln führen. Wird das Energiepotenzial nicht genutzt, entstehen nicht selten psychosomatische Erkrankungen. Auch bei sog. Underachievern, Menschen, die in ihrer Hochbegabung weit unter ihren Möglichkeiten liegen, kann sich die Unwissenheit ob der eigenen Hochbegabung gesundheitlich und persönlich sehr zum Nachteil auswirken.

Es gibt viele Mythen über Hochbegabte: Sie seien Überflieger, Genies, Alleswisser. Vorsicht: Hochbegabung ist nicht Hochleistung. Doch woran erkennt man Hochbegabte?   

  • hohe Auffassungsgabe
  • sehr gute Gedächtnisleistung
  • überdurchschnittlich hohe kognitive Leistungen
  • hohe emotionale Wahrnehmung
  • komplexes und vernetztes Denken
  • reiches Innenleben
  • Interesse an tiefgreifenden philosophischen und psychologischen Fragen
  • starke Selbstzweifel und Selbstkritik
  • hohes Detailwissen in Einzelbereichen
  • hohes Wertebewusstsein

Die weibliche Hochbegabung

Hochbegabte sprechen von ihrer Hochbegabung als Segen und Fluch zugleich. Hochbegabung fühlt sich nicht selten als eine Andersartigkeit an. Kommen noch weitere ‚Abweichungen von der Norm‘ oder Besonderheiten zur Hochbegabung hinzu, die in der Gesellschaft als Andersartigkeit empfunden werden, beispielsweise ein Migrationshintergrund, Homosexualität oder eine Behinderung, so spricht man von sog. Doppelbelastungen. Als eine solche Doppelbelastung kann auch die weibliche Hochbegabung verstanden werden.

Hochbegabte Mädchen

„Ein bedeutsamer Unterschied zwischen hochbegabten Mädchen und Jungen, so die Autoren Stapf und Stapf (1996; 7f.), ist darin zu sehen, dass von allen hochbegabten Kindern, die zu einer psychologischen Beratung gebracht werden, nur 25 % Mädchen sind. Es werden deutlich weniger Mädchen als Jungen als hochbegabt identifiziert und entsprechend weit weniger von Familie und Schule gefördert. Eltern, insbesondere Mütter, seien an der kognitiven Förderung der Töchter weniger stark beteiligt, da sie insgeheim seltener an eine (eigene) sehr hohe Begabung glauben“, heißt es.

Mädchen fallen in Kindergarten und Schule seltener durch Verhaltensauffälligkeiten auf, da besonders Mädchen akzeptiert werden wollen und sich oft den Leistungen und Interessen der Mitschülerinnen anpassen. Zudem haben Mädchen eine höhere Entwicklungsgeschwindigkeit als Jungen, was sie bis zur Pubertät dadurch noch deutlicher unterfordert. Dies zeigt sich an den stärkeren Klagen der Mädchen über Langeweile, Lustlosigkeit und psychosomatische Beschwerden.

Die Auswertung biographischer Erinnerungen von Katharina Fietze (2013), die sich mit der weiblichen Hochbegabung befasst, hat ergeben, dass hochbegabten Frauen in ihrer Kindheit in zweifacher Weise an Feedback fehlte: in der Wertschätzung ihrer Leistungen und der Wertschätzung ihrer Person. Für alle Kinder, ob Mädchen oder Jungen, gilt: Um sich selber richtig einschätzen zu können und eine begabungsgerechte Identität zu entwickeln, müssen Kinder gespiegelt werden. Vor allem Mädchen brauchen eine Spiegelung ihrer Intelligenz durch positive Verstärkung, gezielte Ermutigung und konstruktives Feedback zur Stärkung ihres Selbstbewusstseins und ihrer Persönlichkeitsentwicklung.  

Hochbegabte Frauen

Es gibt eine gewisse Anzahl an Frauen, die es in Wirtschaft, Politik, Kunst, Wissenschaft und Sport an die Spitze geschafft haben, darunter sicherlich viele Hochbegabte, wie es ihre Performance nahelegt. Auch gibt es viele hochkompetente Frauen, die in ihrem Beruf oder als Familienfrauen glücklich sind. Doch die Mehrzahl der hochbegabten Frauen lebt anders. Sie definieren sich nicht über Leistung und Erfolg und wirken im Hintergrund, so dass niemand ihre Hochbegabung ahnt. Wer sind diese Frauen? Es sind starke Frauen hinter erfolgreichen Männern und kompetente Mütter schwieriger Kinder. Es sind Frauen, die den Familienbetrieb managen und tatkräftige Frauen in Ehrenämtern. Es sind auch die Unzufriedenen, die sich in ihrem Beruf nicht wohl fühlen und diejenigen, die aufgrund einer Nicht-Passung in der Gesellschaft in eine Sucht, eine Krankheit oder eine andere schwierige Lage geraten sind. Für Frauen, die im Hintergrund sind, ist es schwierig bei sich selbst eine Hochbegabung zu vermuten, da sich ihre Kompetenz nicht in einer entsprechenden Performance ausdrückt. So ist die Hochbegabung weder für sie selbst noch für Außenstehende sichtbar. Hochbegabung ist jedoch ein wichtiger Teil der Identität. Nicht von ihr zu wissen ist wie von seiner sexuellen Orientierung nichts zu wissen – man gerät in dieser Unwissenheit im Leben in eine Schieflage.

Die geringeren Chancen von hochbegabten Mädchen auf befriedigende Verwirklichung ihrer geistigen und sozialen Bedürfnisse sehen Stapf und Stapf in der Vermeidung von Konkurrenz mit Männern, im geringen Selbstvertrauen in sog. männlichen Domänen, aber auch im breiteren Interessensspektrum und nicht zuletzt in der sozialen Orientierung an Beruf und Familie. Hochbegabte Frauen trachten gewöhnlich nicht nach Höchstleistungen. Die Lösungsansätze könnten hier sein: Eine frühe Identifikation und möglichst zeitige Einschulung hochbegabter Mädchen sowie die kontinuierliche Aufklärung aller Beteiligten und Förderung der Akzeptanz durch Eltern und Lehrer mit dem Resultat von Fördermaßnahmen. 

Hirnforschung, Begabung, Geschlecht

Es sind immer noch zu wenige Führungspositionen weiblich besetzt. Das könnte sich allerdings in naher Zukunft ändern: An deutschen Gymnasien ist ein immer größer werdender Unterschied zwischen den Abiturnoten von Schülerinnen und Schülern zu beobachten. Inzwischen liegen die Mädchen beim Numerus clausus im Durchschnitt schon eine ganze Note vor den Jungs. Auch übertrumpfen die Frauen die Männer nun erstmals bei der Hochbegabtenförderung. Soweit die statistischen Fakten – doch wie lässt sich diese Entwicklung erklären und welche Konsequenzen wird sie haben? Ist das weibliche Geschlecht eben doch das intelligentere und werden auf den Chefsesseln in Industrie, Politik und Hochschulen künftig deutlich mehr Frauen sitzen?

Kann die Hirnforschung Aussagen zu geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Intelligenz machen? – Die wissenschaftlich abgesicherten Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Hirnen sind schnell zusammengefasst: Die Gehirne von Männern sind im Durchschnitt rund zehn Prozent größer als die von Frauen, und bei Frauen weisen die Sprachzentren ein erhöhtes relatives Volumen auf. Doch daraus lasse sich praktisch überhaupt nichts für die Intelligenz eines Menschen folgern, fasst Gerhard Roth, deutscher Biologe und Hirnforscher, zusammen. Aufs Ganze betrachtet, so betont auch der Persönlichkeitsforscher Professor Dirk Hagemann von der Universität Heidelberg, gebe es keine substanziellen Geschlechtsunterschiede bei der allgemeinen Intelligenz, die für den beruflichen Erfolg eine wichtige Größe sei.

Interessant ist die messbare Abhängigkeit bestimmter Fähigkeiten von hormonellen Faktoren. So sei die sprachliche Kompetenz der Frauen dann am größten, wenn sich ihr Östrogenspiegel auf dem Maximum befindet, berichtet Professor Roth. Andererseits seien die Frauen beim räumlichen Denken gar nicht mehr schlechter als Männer, wenn der Östrogenwert minimal ist. Einst als sexistisch verschrien, ist inzwischen der Einfluss der Hormone auf die Fähigkeiten allgemein akzeptiert.

Doch warum sind Frauen immer noch so selten in Führungspositionen zu finden? Die Intelligenzforscherin Professorin Elsbeth Stern von der ETH Zürich resümiert: „Sie sind ängstlicher, lassen sich leichter verunsichern und geben eher auf.“ Wir müssen also unsere Mädchen und Jungen anders erziehen.

Schmidbauers Kassandrakomplex: Das Drama der hochbegabten Frau

Als Kassandra in der griechischen Mythologie die Verführungsversuche von Apollon zurückweist, der ihr wegen ihrer Schönheit die Gabe der Weisheit gegeben hat, wird sie von demselben verflucht: Auf dass niemand ihren Weissagungen Glauben schenken werde. Daher gilt sie in der antiken Mythologie als tragische Heldin, die immer das Unheil voraussah, aber niemals Gehör fand. Derart ungehörte Warnungen werden als Kassandrarufe bezeichnet.

Der Münchener Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer befasst sich in Analogie zur griechischen Mythologie in ‚Kassandras Schleier‘ mit dem Drama der hochbegabten Frau und der Belastung ihres Selbstgefühls durch die Hochbegabung. Schmidbauer bietet keine Auflösung des Kassandrakomplexes an. Seine Thesen sollen zur Reflektion einladen.

Angst vor Isolation

Hochbegabte werden oft falsch eingeschätzt oder verkannt, da sie gegen Fragmentierungen und Verzerrungen ihrer Person schon früh Abwehrstrategien entwickelt haben. Um die Angst vor Isolation zu vermeiden, verstecken sie ihre Begabung, da sie sich davor fürchten, ihre geistige Überlegenheit sichtbar zu machen.

Verhältnis von Arbeit, Erholung und Ergebnis

In ihrer Arbeit orientiert sich die Hochbegabte nicht an der Durchschnittsnorm, sondern an der eigenen Erschöpfung. In extremen Fällen kann sie sich nur erholen, wenn sie psychosomatische Symptome produziert.  Sie bewältigt Aufgaben erheblich schneller als andere und gewinnt so viel Zeit für Sinnfragen und Verbesserungen, die nichts mit der Aufgabe zu tun haben. So verliert sie oft jede innere Beziehung zum Verhältnis von Anstrengung und Ergebnis. Entsprechend unsicher ist ihr Selbstgefühl.

Das Selbstwertgefühl

Selbstgefühlsprobleme durch Kränkungen durch Bezugspersonen tauchen immer dann auf, wenn Hochbegabte und Normalbegabte miteinander aufwachsen und Hochbegabte sich anpassen müssen. Die Hochbegabung irritiert das Selbstgefühl, da sie die Identifizierungsmöglichkeiten mit anderen Personen einschränkt und die Kluft zwischen dem Ich und den Trieben vertieft. Es gibt Hochbegabte, die zu künstlichen Mitteln greifen, um ihre Ängste vor Kontaktverlust durch eine zu weite Entfernung von den Menschen zu konkretisieren. Durch die sog. narzisstische Einengung (beispielsweise Drogen), ist die Empfindung, anders zu sein, endlich greifbar und kann gestaltet werden.

Partnerschaft und Hochbegabung

Kann eine Frau gleichzeitig weiblich und intelligent sein? Intelligenz macht Angst. Männern ganz besonders. Die Herausforderung mit besonders intelligenten Frauen nehmen nur wenige Männer an. Selbst im 21. Jahrhundert hat der Mann das Bedürfnis, sich stärker zu fühlen und seine Partnerin zu beschützen. Hochbegabte Frauen sehen sich somit der Herausforderung gegenüber, aus der stereotypen Rolle der freundlichen, unterwürfigen und sanften Frau herauszubrechen und gleichzeitig ‚attraktiv‘ zu sein. Die hochbegabte Frau zweifelt nicht selten an ihrem Wert und dem Interesse, das andere an ihr haben könnten.  

Sexualität und Hochbegabung

Die Hochbegabte kann sehr viel intensivere und aussagekräftigere Phantasien entwickeln als Normalbegabte. In einem sexualfeindlichen Milieu jedoch werden ihre Belastungen immens. Da die Begabung der Sexualität entgegenkommt und viele Lustmöglichkeiten in der Phantasie durchspielen kann, wachsen auch die Ängste vor Isolation und Beziehungsverlust durch Hingabe an eine von der Umwelt tabuisierte Erotik. Wenn die Hochbegabte ihre Anstrengungen zur Sexualabwehr steigern muss, kann sie an Hysterie oder einer histrionischen Persönlichkeitsstörung erkranken.

Kinderwunsch und Hochbegabung

Die durchschnittlich Begabte wird nach dem natürlichen Verlauf des Lebens schwanger werden und entstehende Herausforderungen nacheinander anpacken. Die hochbegabte Frau dagegen stellt sich das ganze Leben ihres Kindes vor, imaginiert die Dimension möglicher Probleme, die ihr Partner mit ihr haben wird und verzagt nicht selten vor der Fülle an genauestens durchdachten Schwierigkeiten.

Der Kassandrakomplex

Die Tragödie der hochbegabten Frau wurzelt häufig in der Projektion ihrer Überlegenheit in einen idealisierten Mann. Sie überschätzt ihn und stellt ihm ihre Fähigkeiten zur Verfügung. Sein langsames Tempo erklärt sie für den Ausdruck einer Gewichtigkeit, die sie nicht versteht und macht seine Einfältigkeiten zu Tugenden. Wo sie ihn überflügeln könnte, verdrängt sie ihre Denkfähigkeit und lässt sich von ihm belehren. So wird Kassandras Tragödie zu einer inneren Blockade. Während die mystische Gestalt weiter sah als die Männer um sie, ihr aber keiner glaubte, glaubt sich die moderne Kassandra selbst nicht, dass sie jemals weiter sehen könnte als ihr Partner.

Ausblick und Fazit

Die Gefahren der Hochbegabung für das Selbstgefühl wachsen mit der Individualisierung in einer Gesellschaft und den Anforderungen an die Individuen, sich ihre eigenen Werte und ihre eigene Identität aus einem globalisierten multikulturellen Chaos zu basteln. Coaching und Psychotherapie können viel zum Verständnis und der Integration der eigenen Hochbegabung erwachsener Frauen und damit zur Heilung und Förderung beitragen. Es gilt jedoch schon bei den hochbegabten Mädchen anzufangen.

Bildung und Politik müssen für Mädchen und Jugendliche den pädagogischen und finanziellen Rahmen schaffen: Genaues Hinsehen, frühe Identifikation, gezielte und systematische Förderung hochbegabter Mädchen und nicht zuletzt Aufklärung von Lehrpersonal und Eltern und die Bewusstmachung in der Öffentlichkeit.  

Und nicht nur das: Mädchen brauchen eine Spiegelung ihrer Intelligenz durch positive Verstärkung, gezielte Ermutigung und konstruktives Feedback insbesondere von den Müttern und Frauen, Lehrerinnen, Kolleginnen und Therapeutinnen. Denn es sind die Frauen, die patriarchalische Strukturen mit Neid und Konkurrenzdenken innerhalb ihres eigenen Geschlechtes am wirksamsten erhalten und Frauen ausbremsen.

Mehr Bewusstsein für die Potentiale eines jeden einzelnen für den richtigen Platz in der Gesellschaft!

Text: Alma Drekovic (Alma Coaching Düsseldorf)

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